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entdeckungen grimmwelt kassel
Bedürfte es einer Illustration, wie ein modernes Muse- um auszusehen hat, so empfiehlt sich ein Besuch der vor einem Jahr in Kassel eröffneten »Grimmwelt«. Deren Modernität beginnt bereits mit der Architektur:
Hoch am Weinberg über der Innenstadt liegt der 20 Millionen Euro teure, mit hellem Naturstein verkleidete Neubau, dessen Schönheit vergessen lässt, dass sich an seiner Stelle ein Park befand und dass das Projekt in der Bevölkerung umstritten und Gegenstand einer Klage vor dem Verwaltungsgericht war. Vor allem die breite Freitreppe, die an der Hangseite auf das Dach der »Grimmwelt« führt, von wo der Blick über Stadt und Fuldaaue schweift, macht den preisgekrönten Bau zu einem Publikumsmagneten – im ersten Jahr kamen rund 160.000 statt der kalkulierten 80.000 Besucher. Seiner Modernität entspricht das Innere des Museums, das man gar nicht mehr als solches bezeichnen mag: Auch seine Präsentation wurde von ausge- suchten Gestaltungskünstlern entworfen, deren Ambitionen den Besuchern die Orientierung nicht immer leicht machen.
Foto: Nikolaus Frank
Strukturiert ist der Rundgang durch die Dauerpräsentation (zu der sich wechselnde Sonderausstellungen gesellen) nach Buchstaben – denn die, mit Unterbrechungen, zwischen 1798 und 1841 in Kassel lebenden Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm waren ja nicht primär Märchensammler und -erzähler, sondern professionelle Büchermenschen, Pioniere der Germanistik. Ihr Hauptwerk, das 1838 begonnene »Deut- sche Wörterbuch«, das die Entwicklung der deutschen Sprache mit Wortbedeutungen und Belegstellen dokumentiert, steht denn auch am Beginn der Ausstellung, was dem Grimm’schen Arbeits-, weniger aber Wirkungsschwerpunkt entspricht. So führt die Ausstellung durch das Alphabet hüpfend von Z wie »Zettel« über Ä wie »Ärschlein« bis zu H wie »Holzwurzel«. Ein wenig willkürlich anmutend stehen die Begriffe für ein Kunst- werk (etwa die chinesischen Holzwurzeln des Künstlers Ai Wei- wei), eine Installation oder einen thematischen Aspekt. Man braucht eine Weile, bis man sich in diesem System zurechtge- funden hat und sich auf die einzelnen Exponate konzentrieren kann (z.B. Ausgaben des erst 1971 vorläufig abgeschlossenen »Deutschen Wörterbuchs«, Arbeitsmaterialien der Grimms, Faksimiles von Begriffsnotizen), die hier auf manchmal arg ver-
spielte Weise präsentiert werden. Neben Alexej Tchernyis wun- derschönen Dioramen zur Geschichte des Wörterbuchs gibt es zum Beispiel eine Europakarte, die das weitgespannte Netz Grimm’scher Korrespondenzpartner blinkend und flimmernd veranschaulicht. Gänzlich multimedial-digital-interaktiv gibt sich der »erlebnisreiche Krimskrams-Kosmos« (»Frankfurter Rundschau«) der »Grimmwelt«, wenn sich diese dem Märchen widmet. Da darf man sich eine Brille mit farbigen »Gläsern« aufsetzen, um einen Märchentext an der Wand lesen zu können, Teilnehmer einer Märchen-Videoinstallation werden oder sich in die »performative Installation« einer stilisierten Dornenhe- cke begeben.
Neben solchen zeitgeisttypischen Zerstreuungen finden sich auf den 1.600 Quadratmetern Ausstellungsfläche natürlich auch »altmodische« Attraktionen. In einem Literaturmuseum sind das Manuskripte und Bücher: prächtige Ausgaben von Werken, die den Grimms als Inspiration und Quelle ihrer Mär- chen dienten, Arbeitsexemplare mit handschriftlichen Notizen, eine ganze Wand mit in alle erdenklichen Sprachen übersetz- ten Grimmschen Märchen.
Schließlich mündet der Weg durch die Ausstellung in jenem Bereich, der die Lebensgeschichte der Grimms erzählt, von der ein Kapitel bekanntlich in Göttingen gespielt hat, wo die Professoren-Brüder sich 1837 als
Part der »Göttinger Sieben« am Widerstand gegen den Verfas- sungsbruch des Königs von Hannover beteiligten. Original Grimmsches Mobiliar und Küchengerät lassen die Aura jener Zeit wieder aufleben, Dokumente belegen die enge familiäre Bindung. Hier kommt das eigentliche Ereignis der »Grimm- welt« ins Spiel. Denn aller talentierten Grimm-Brüder waren drei. Den dritten kann man hier entdecken: den Zeichner Lud- wig Emil Grimm (1790-1863), der nicht nur das Leben seiner berühmten älteren Brüder sowie deren Märchen mit pointier- ter Feder illustrierte, sondern u.a. Bildergeschichten wie die »Kurze Lebensbeschreibung einer merkwürdigen und liebevol- len Sau« anfertigte, die an Wilhelm Busch gemahnen. Ludwig Emil Grimms Werke, Vorläufer der modernen Comics, gehören zu den zahllosen Schätzen, die man in der »Grimmwelt« entde- cken kann. Ihre Sichtung setzt ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Assoziationsfreude voraus.
Man kann Zugang zu dieser Welt finden, indem man an einer Führung teilnimmt oder sich einfach treiben und verfüh- ren lässt. Oder man studiert den prächtigen Katalog bei einem Kaffee
im Museumsbistro »Falada«, das in Zeiten, da alles »Erlebnis« oder »Ereignis« zu sein hat, unvermeidlich als »Event- location« daherkommt. Von
dort aus durch die Panora- mascheiben auf Kassel zu blicken, ist ein Erlebnis. Und das ist trotz, nein: wegen aller Ambivalenzen, der Besuch der »Grimmwelt« natürlich auch. t.s.