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entdeckungen museum friedland
Vor allem aus der Schnittmenge von Geschichte, Gegen- wart und angrenzendem Lager gewinnt das Museum seine Spannung, weil es kein abgeschlossenes histori- sches Kapitel abbildet, sondern sein Thema auf durch- aus fatale Weise weitererzählt wird: Die existenzielle Tragik der gegenwärtigen (und zukünftigen) Flüchtlinge sorgt dafür, dass das Museum weiter wachsen und sich stetig wandeln wird. Nicht zuletzt besteht ein Charakteristikum des Museums dar- in, dass sein Ort selbst Gegenstand der Schau ist, indem Fried- land nicht nur die Bühne für millionenfache Schicksale war, sondern spätestens mit seinem Image als »Tor zur Freiheit« im Rahmen des beginnenden Kalten Krieges in den 1950er Jahren selbst zum politischen Akteur wurde. So beginnt die Ausstel- lung denn auch mit einer audiovisuellen Ouvertüre, welche die politische Entwicklung des 20. Jahrhunderts skizziert, als Aus- gang für alles Folgende.
Das besteht zunächst in der Frühzeit des im September 1945 von der britischen Besatzungsmacht in den Gebäuden eines landwirtschaftlichen Versuchsguts der Uni Göttingen einge- richteten Lagers, in dem entlassene Soldaten, Vertriebene, sogenannte Displaced Persons und andere nach 1945 durch Europa getriebenen Menschenströme in Friedland erfasst, medizinisch untersucht, erstversorgt und dann gezielt weiter- geleitet wurden – sodann in der ikonografisch gewordenen »Heimkehr der Zehntausend« aus Russland, der letzten deut- schen Kriegsgefangenen Mitte der 50er, die medial und poli- tisch instrumentalisiert wurde. Die 70er Jahre, als vietnamesi- sche Bootsflüchtlinge und dem chilenischen Regime des Dikta- tors Pinochet Entkommene im Lager Aufnahme fanden. Die 90er, als (Spät-)Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR nach Friedland kamen. Schließlich die unmittelbare Vergangenheit und Gegenwart als Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende aus Syrien und dem Irak, aus Afghanistan, Eritrea, Pakistan, dem Libanon, der Türkei ...
Viel Stoff, den das Museum auf dem modernsten gestalteri- schen und museumspädagogischen Niveau anschaulich auf 350 qm präsentiert, indem es die großen historischen Ereignisse und Entwicklungen anhand einer Fülle von Einzelgeschichten erzählt, die sich hinter der Zahl von mehr als 4 Millionen Men- schen verbirgt, die seit 1945 über Friedland in die Bundesrepu- blik kamen. Unspektakuläre Gegenstände – eine selbstgebas- telte Puppe, eine Schallplatte, eine Unterhose, ein Löf-
fel – werden zum plastischen Erzählanlass, Originaldokumente wie Fotos,
Akten, Briefe rücken die frem-
den Biografien nah heran.
Mitarbeiter berichten in
Tondokumenten von ihnen
besonders wichtigen »sie-
ben Sachen« aus sieben Jahr-
zehnten Friedland. Vor allem lebt
der Ort von der Aura seiner Unmittel-
barkeit, die sich besonders eindrucksvoll
im Treppenhaus manifestiert, durch dessen Fensterscheiben man auf die Gleise blickt, die Bühne von An- und Abreise.
Ratsam ist es natürlich, eine Führung mitzumachen, deren Weg auch in das Lager selbst geht. Am besten begibt man sich
dann aber auf selbstständige Entdeckungstour durch die Räu- me des Museums, stöbert in den Karteikästen, Ton- und Bild- dokumenten, lässt sich ein auf einzelne Geschichten und Bio- grafien, Zeiten und Problemaspekte. Zwangsläufig wird das in einem intensiveren Verständnis für das Los von Migranten münden. In den aufgeheizten Debatten der Gegenwart ist das eine notwendige, weil versachlichende Aufgabe des Museums; Verständnis aber auch für die ortsansässige, laut Baur in die Entstehung des Museums integrierte Bevölkerung, die immer wieder mit neuen Gruppen von Mitmenschen konfrontiert wird, was Spannungen, aber auch Bereicherungen bedeutet – bis hin zu dem Umstand, dass Menschen, die als Migranten nach Friedland gekommen sind, dort sesshaft wurden.
A
Wachstum angelegt. Weitere Räume und inhaltliche Angebote sind geplant, beispielsweise ein Besucherzentrum. Nicht nur Schulklassen und Gruppen bildungspolitischer Institutionen, nicht nur »Ehemalige« sollen den Weg nach Friedland finden, sondern auch »Laufkundschaft« aus der nahen und ferneren
uf relativ kleinem Raum gelingt es dem Museum, den unterschiedlichen Aufgaben gerecht zu werden, die mit seinem Thema verbunden sind. Und wie das Lager und
der Ort, so ist auch das Museum auf Veränderung und
Umgebung. Auch für sie lohnt sich der Weg zu diesem »Ort der Hoffnung«. t.s.


































































































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