Page 27 - Freizeitarena
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Wer glaubt, Laufen sei ausschließlich Beinarbeit, täuscht sich. Denn: »Distanz ist, was der Kopf draus macht«. Das sagt Florian Reichert und zielt auf den Kern dessen, was er am liebsten tut: lange, extrem lange Strecken laufen.
INFO
ASFM (Ausdauer-Sport für Menschlichkeit) Göttingen e.V. Edelgard-Schramm-Weg 4 37085 Göttingen info@brocken-challenge.de www.brocken-challenge.de Die nächste Brocken- Challenge findet am
9. Februar 2019 statt. (Alle Angaben ohne Gewähr)
Zunehmend auf Distanz gehen – das markiert die sportliche Entwicklung des 36-Jährigen, der nicht nur in der Göttinger Laufszene ein bunter Hund ist: Als Seriensieger der Cross-Serie der LG Göttingen und vor allem seit 2007 beim Altstadtlauf macht er seit Jahren in der Region auf sich aufmerksam. Der Altstadt- lauf ist für den gebürtigen Hannoveraner, der 2003 zum Lehramtsstudium nach Göttingen zog, ebenso eine eher nebensächliche Veranstaltung wie der Ultramarathon Brocken-Challenge, ein Wohltätigkeitslauf, den normal Veranlagte vermutlich schon als extrem bezeichnen würden: an absehbar kaltem, unwirtlichem Februartag, bei Schnee und Eis, wahlweise Regen und Matsch, vom Göttinger Kehr auf den höchsten Berg Niedersachsens zu laufen, das heißt unter widrigsten Bedingungen eine Strecke von 80 Kilometern bei einer Höhendifferenz von 1.900 Metern und Schneehöhen von bis zu 50 cm zu bewältigen. Reichert, der für den ASFM Göttingen startet, aber ist ein richtiger Skyrunner, für solche wie ihn ist das Mittelgebirge Harz allenfalls ein Trainings- gelände. Der Ernstfall findet im Hochgebirge statt und ist eine Mischung aus Laufen und Bergsteigen. Skyrunner rennen Alpenberge hoch und runter, über Grate und Gip- fel, absolvieren Strecken von der Marathonstrecke auf- wärts und überwinden Höhendifferenzen von über 2.000 Metern. Florian Reichert macht so etwas mit großem Erfolg. Er ist Mitglied des Nationalkaders und kann auf eine eindrucksvolle Liste von Titeln und Bestzeiten ver- weisen. U.a. ist er Rekordsieger bei der Brocken-Chal- lenge, gewann die Mannschafts-Bronzemedaille bei den World Championships im Ultratrail und wurde Deutscher Meister mit der Marathonmannschaft sowie solo im Ultratrail (über 65 Kilometer und 1.700 Höhenmeter).
Natürlich drängt sich auch in seinem Fall die Frage auf, warum man sich einer solchen Schinderei aussetzt, und die Antwort ähnelt jener, die alle Ausdauersportler geben: weil es einen offensichtlich sehr großen Reiz aus- macht, seine Grenzen zu erfahren und zu erweitern, das Bewusstsein zu genießen, »etwas geleistet zu haben«. Die Frage, warum immer mehr Menschen solche Grenz- erfahrungen suchen, warum laut Reichert »Ultra ohne Ende boomt«, ob das etwas zu tun hat mit der abenteuer- freien Weise, in der wir im saturierten Westen leben, ver- mag aber auch Reichert nicht zu beantworten.
Begonnen hat er als »konventioneller« Sportler im Verein (Fußball, Volleyball, Tischtennis) sowie als klassischer Leichtathlet, mit der 1.500-Meter-Strecke. Die wurde ihm irgendwann zu fad, und er ging auf immer größere Dis-
tanzen: Was mit 5.000 Metern begann, führte 2012, da war Reichert 30, zum ersten Marathon. Das sind bekanntlich 42,195 Kilometer, eine Distanz, die für viele das Nonplusultra bedeutet, einen Lebenstraum gar. Reichert hat sie inzwischen verdoppelt, 86 Kilometer war seine bislang längste Strecke. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch das Training in Wald und Bergen und über erste Crossläufe. Natürlich habe das etwas mit einem Suchtcharakter zu tun, doch das Leiden, das Außenstehende mit solchen Läufen assoziieren, ist eher ein Reiz. Wenn Reichert darüber spricht, dass es bei einer 1.500-Meter-Strecke einen »ganz anderen Schmerz« gebe als bei Ultraläufen, wo der Schmerz »eher schleichend« sei, kommt er selber zu der Vermu- tung, das Ganze sei schon »ein bisschen abartig«, »durchaus masochistisch«. Reichert genießt die Ein- samkeit des Langstreckenläufers im Training, und, vor allem im Hochgebirge, die Landschaft, die man durch- läuft, deren Teil man wird. Im Rennen wird die kontem- plative Laufwahrnehmung, der meditative Zustand, in dem einem »die besten Ideen« kommen, abgelöst durch andere Aspekte: das Messen mit anderen, Taktik, Renn- einteilung. Mental befinde man sich dann eher in einem Tunnel. Distanz ist eben, was der Kopf draus macht: ob der sich einschüchtern lässt durch die Strecke, deren Länge ausblendet oder sie sogar genießt.
Kein Zweifel: Florian Reichert genießt, was er macht, und zudem reflektiert er es genau. Was wiederum nicht ver- wundert: Im bürgerlichen Brotberuf ist Reichert Lehrer und unterrichtet am Theodor-Heuss-Gymnasium Eng- lisch, Spanisch und natürlich: Sport. Das erdet und lässt ihn den Sport tagtäglich aus anderer Warte erleben: Kin- der und Jugendliche zum Sport zu motivieren, ihnen zu vermitteln, dass Leistung und Selbstüberwindung Spaß machen können, ist eine ganz andere Herausforderung, vielleicht eine eigene Art von Langstrecke, denn natür- lich macht auch Reichert die Beobachtung, dass »Lei- besertüchtigung« heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Dass die Schülerschaft von einem Spitzen- sportler unterwiesen wird, sei eigentlich kein Thema, allenfalls sei es von Vorteil, dass
er im Sportunterricht selber aktiv mitmacht. Und viel- leicht weiß ja die eine oder der andere, um was für einen Crack es sich beim Lehrer Rei- chert handelt. t.s.
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