Page 29 - Freizeitarena
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»Volkssport« entlarvt!
Reisen gibt es
gar nicht!
Es ist allerhand, worin nicht alles wir Weltmeister sind! Rodeln (Einsitzer Männer, Einsitzer Frauen, Doppelsitzer Männer, Doppelsitzer Frauen, Mixed-Doppel-und-Mehrfachsitzer), Biathlon (so gut wie alles vom Masseneinzelsprinthoffnungslauf bis zur Nationengesamtverfolgung klassisch-nordisch), in der Regel auch Kanukajakruderwettrennen, neulich sogar Autoschnellfahren, dazu Export, Fußball (Männer) und Reisen (alle). Stopp! Letzteres sofort streichen, denn: Reisen gibt es gar nicht!
Schon 1967 berichtete der irische Wissenschaftsautor Flann O’Brien in seinem Roman »Der dritte Poli- zist« von einem Gelehrten namens
de Selby, der eine provokante These auf- stellte: »Eine Reise ist eine Halluzinati- on«. De Selby belässt es aber nicht dabei, diese unerhörte Behauptung einfach so in die Welt zu setzen, sondern belegt sie durch eine zwingende Argumentations- reise, Pardon: -reihe. Und zwar definiert er das Leben des Menschen als »Sukzes- sion unendlich kurzer statischer Erfah- rungen« und »verbannt«, so nunmehr wörtlich O’Brien, »das allgemein erfahre- ne Gefühl der Progression ins Reich der Halluzinationen, zum Beispiel bei einer Reise von einem Ort zum anderen«. Kon- kret heißt das: »Wenn sich jemand in A aufhält und wünscht, sich an dem entfern- ten Ort B aufzuhalten, so kann er das nur dadurch bewerkstelligen, dass er sich unendlich kurze Intervalle lang an unzäh- ligen dazwischen liegenden oder interme- diären Orten aufhält.« Mithin besteht eine Reiseroute aus einer Kette von Orten, »zwischen welchen man sich wieder eine Kette anderer Aufenthaltsorte denken muß, die in einer Weise angeordnet sind, die die Anwendung dieses Prinzips bis ins Unendliche gestattet«. Will sagen: Man kann sich immer nur an EINEM Ort aufhal- ten, also immer nur irgendwo SEIN, was logischerweise total statisch ist, also unbeweglich, und das schließt ein Vor- wärtskommen nun mal aus, und folglich jegliche Reisetätigkeit. Logischer Schluss: Reisen gibt es nicht. Punkt.
Man wird nicht umhin können, einzuräu- men, dass de Selby nicht der Erste war, der auf den Trichter gekommen ist: Schon Zenon von Elea (490 v. Chr. bis 430 v. Chr.) hat ja in seinem Paradoxon von Achilles
und der Schildkröte nachgewiesen, dass es Bewegung nicht gibt, wenn ich das rich- tig erinnere. Laut de Selby ist ausschließ- lich »die Unfähigkeit des menschlichen Gehirns« dafür verantwortlich, dass trotz- dem immer noch von Bewegung spinti- siert und ordentlich damit angegeben wird. Und zwar sogar an bildungsbürger- lichster Stelle! So schreibt in der »Zeit« vom 21.1.16 Ursula März: »Der technische Fortschritt privilegiert zwangsläufig die Überwindung der Strecke gegenüber der Versenkung in den Ort. Wirkliches Reisen aber kann sich nur in beidem erfüllen.« AÜberwindung der Strecke! Ha!
ber wir müssen uns ja nicht mit komplizierten Theorien herum- schlagen, es reicht, den Alltag zu beobachten, um festzustellen,
dass es dieses »wirkliche Reisen« in Wirklichkeit gar nicht gibt! Beispiele:
...Wie ist es zu erklären, dass die Hes- sen in Kassel-Calden einen Flughafen gebaut haben, auf und an dem sich rein gar nichts tut, kein »Flugzeug« »startet« und/oder »landet«? Reisen gibt es nicht!
...Wie kann es sein, dass quasi zeit- gleich in Wilhelmshaven (Niedersachsen) ein Haven gebaut wurde, in dem kein Schiff anlegt und keins in See sticht? Rei- sen gibt es nicht!
... Was werden wohl jene »Bahnreisen- den« der Frau März erzählen, nachdem sie 22 Stunden lang auf freier Strecke in Ostfriesland in ihrem Zug ausharren mussten, und nichts tat sich? Reisen gibt es nicht!
... Überhaupt die Bahn: Verspätungen, Stillstand, Zugausfälle – mit vollkommen absurden »Begründungen«. Reisen gibt es nicht!
... Wie ist es zu erklären, dass »Reisen- de« aus dem »Urlaub« heimkehren, behaupten, an den aufregendsten Desti- nationen gewesen zu sein, jedoch abgese- hen von Hotel- und Verpflegungsberich- ten nichts zu erzählen haben? Reisen gibt es nicht!
... Wie interpretiert man Matthias Clau- dius’ (1740-1815) Gedicht »Urians Reise um die Welt«, in dessen erster Strophe es zwar heißt »Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was verzählen«, in dessen 14. und letzter dann aber die verblüffende Wende eintritt: »Und fand es überall wie hier, / Fand überall ’n Sparren«? Reisen gibt es nicht!
... Warum übergießt die Welt die Berli- ner mit Hohn und Spott, nur weil sie sich vernünftigerweise weigern, noch einen sog. Flughafen »betriebs«-fertig zu machen, wissen sie doch: Reisen gibt‘s nicht!
... Und warum, so ist abschließend zu fragen, hält die öffentliche Meinung an der, wie hier klar und deutlich bewiesen wurde, unsinnigen Mär von Reisen, Fort- bewegung und dergleichen fest? Liegt das wirklich nur an der »Unfähigkeit des menschlichen Gehirns«, der Flüchtig- und Oberflächlichkeit einer Kulturjourna- listin? Oder haben wir es am Ende mit ganz anderen Interessen zu tun? Interes- sen der Auto- und Tourismusindustrie? Der Flughafen- und Havenerrichter? Der »Reise«-Journalisten?
Lesen Sie im nächsten Heft ein ausfuhr-, nein: ausführliches Exporten-, schon wie- der falsch: Expertengespräch zum The- ma: Export oder Import? Was ist der neue Trendsport? t.s.
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