Page 29 - Freizeitarena
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Der Freizeitarena-Buchtipp Tumultöse Heiterkeit
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Edward Brooke-Hitchings lustige »Enzyklopädie der vergessenen Sportarten«
Trendsetter »Freizeitarena«! Bereits vor vier Jahren, in Heft 2/2013, begaben wir uns unter der rätselhaften Überschrift »Hanniball in Dülmen« auf die »Spuren ausgestorbener Sportarten«, wussten wir doch, Goethe
zitierend: »Alles, was besteht, ist wert, dass es zu Grunde geht« – also auch Sportarten. Denn: »Logischerweise sind die menschlichen Kapazitäten, Sport zu treiben, begrenzt, Zeit, Raum und Manpower betreffend. Weshalb dann immer wieder Sportarten ausstarben, aussterben mussten. Das nennt man Evolution«, fabulierte der Autor damals vor sich hin und kam zu dem diskutablen Schluss: »nur die stärksten, anpassungsfä- higsten Sportarten (Headis) vermochten sich durchzusetzen. Alle anderen, die Weicheier unter den Sportarten, die sich nicht durchsetzen konnten, sind vom Erdboden verschwunden.«
Und siehe da, bereits im Jahr 2015 griff der britische Autor Edward Brooke-Hitching den von uns ins weite Feld der Publi- zistik gekickten Themenball umgehend auf und veröffentlichte sein Buch »Fox Tossing, Octopus Wrestling and other Forgot- ten Sports«, das 2016 unter dem Titel »Enzyklopädie der ver- gessenen Sportarten« auf Deutsch erschienen ist.
Schon ein kursorischer Blick ins Inhaltsverzeichnis enthüllt ein Skandalon: Nicht eine einzige der von uns seinerzeit beschrie- benen ausgestorbenen und vergessenen Sportarten (Dülmen, Hanniball, Rumrudern, Zwanzigkampf usw.) kommen bei Broo- ke-Hitching vor. Vermutlich wollte der Brite verhindern, dass jemand merkt, dass er sich von einem Göttinger Magazin zu seinem lukrativen Weltbestseller hat animieren lassen (was ihm aber, wie dieser enthüllende Beitrag hier zeigt, ganz und gar nicht gelungen ist).
Doch genug davon. Denn auch ohne die »Freizeitarena«-High- lights hat Brooke-H. genügend eigene Entdeckungen aufzuwei- sen: Immerhin rund 100 rätselhafte »Aktivitäten« hat er zusammengetragen, von A wie Aalziehen bis Z wie Zentrifugal- kegeln. Unangenehm fällt auf, dass B.-H. einen Schwerpunkt auf sog. »Sportarten« legt, bei denen es darum geht, Tiere zu quälen, wenn nicht gar zu töten: von o.g. Aalziehen über Affen- kampf, Bären-, Enten-, Löwen-, Menschen- und Rattenhatz bis zu Stierlauf, Schildkrötenrennen, Stachelschweinjagd, Nah- kampf mit Bären, Goldfischschlucken, Eselboxen, Fuchsprel- len, Italienischem Katzenkopfstoßen, Die Katze aus der Tonne schlagen oder Menschenwerfen. Alle diese sadistischen For- men des Zeitvertreibs lassen den bekannten, Churchill zuge- schriebenen Spruch »Sport ist Mord« in einem neuen Licht der Wahrheit erscheinen und können nur in einem Buch auftau- chen, das eine sehr weit gefasste Definition des Sport-Begriffs als Grundlage hat. Sport ist nicht nur, wie Brooke-Hitching ein Wörterbuch von 1755 zitiert, »Spiel, Zerstreuung, Ausgelas- senheit und tumultuöse Heiterkeit«, sondern auch »Zerstreu- ung im Felde wie die Vogeljagd, die Jagd und das Angeln«.
Zum Glück bleiben genügend Sportarten, die unserem modernen, dem Tierwohl offe- nen Verständnis von Sport entsprechen, zu einem großen Teil sehr lustig und im Übri- gen, wie es sich für einen bri- tischen Autor gehört, von very britischem Humor gekenn- zeichnet sind.
Dazu gehört die aus unerfind-
lichen Gründen in Vergessen-
heit geratene Disziplin des
Autopolo, bei der man Polo im
frühen 20. Jahrhundert nicht
vom hohen Ross, sondern
»stotternden Automobil« aus
betrieb: »Wenn man nicht vor
Angst stirbt, lacht man sich
tot«, summierte ein zeitgenös-
sischer Autopolist seine Eindrücke. Ebenfalls nicht durchset- zen konnten sich: Boxen zu Pferde (dessen Regelwerk hier nicht erklärt werden muss), Codeball (eine Mischung aus Golf und Fußball), der Gehstockkampf (bei dem es im Prinzip darum ging, einem Kontrahenten mit einem Spazierstock auf den Kopf zu hauen) sowie Luftgolf (wobei aus einem Flugzeug Golfbälle abgeworfen wurden, die ein Mitspieler auf dem Erdboden dann einzulochen hatte). Erwischt hat es leider auch meinen Lieb- lingssport: Dwile Flonking (»Bierwatschen«).
Interessanterweise widmet sich auch der Komikkritiker Hans Mentz in der Satirezeitschrift »Titanic« (Rubrik Humorkritik, März 2017) just diesem Sport, Brooke-Hitching zitierend – und hier von mir zitiert: »›Im Norfolk der 1960er-Jahre war
es eine beliebte Freizeitveranstaltung der Einheimischen, sich in einer großen Gruppe zu versammeln, zu einem Akkordeon zu tanzen und einander mit biergetränkten Lappen ins Gesicht zu schlagen‹. Selbstverständlich mit großem Ernst, wie es sich für Sportler gehört, und ausgefeilten Regeln folgend, ›obwohl diese oft verwirrend waren, vor allem je weiter das Spiel vor- anschritt und je mehr dabei getrunken wurde.‹« Dwile Flonking sei, so Mentz, »tausendmal lustiger und humaner als derzeit grassierender Unfug wie Biath- oder Triathlon – Sportarten, die zum Vergessen sind.« Eine provokante These, die der Autor die- ser Zeilen hiermit zur Diskussion stellt. Zudem entlässt er sei- ne Leserschaft nicht aus diesem Artikel, ohne anzuregen, über die Frage nachzudenken, welche der derzeit ausgeübten Lei- besübungen in sagen wir 100 Jahren in einer Neuausgabe der »Enzyklopädie der vergessenen Sportarten« wohl vertreten sein werden. t.s.
Edward Brooke-Hitching: Enzyklopädie der vergessenen Sportarten.
Aus dem Englischen übertragen von Matthias Müller, Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2016, 200 Seiten, 29 Euro.
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